* 26 *

»Nein danke, Galen«, sagte Sarah, nachdem Silas am Morgen gegangen war. »Ich gehe nicht zum Mittwinterfest dieser Hexen. Bei uns Zauberern wird dieses Fest nicht gefeiert.«
»Also, ich werde hingehen«, sagte Galen, »und ich finde, wir sollten alle hingehen. Die Einladung einer Wendronhexe schlägt man nicht leichtfertig aus, Sarah. Es ist eine Ehre, von ihnen eingeladen zu werden. Mich würde nur interessieren, wie Silas es geschafft hat, eine Einladung für uns zu ergattern.«
»Hm«, war Sarahs ganze Antwort.
Doch als im Lauf des Nachmittags der köstliche Duft von Wolverinenbraten durch den Wald und zum Baumhaus hinaufwehte, wurden die Jungen sehr unruhig. Galen aß nur Gemüse, Wurzeln und Nüsse, und nach ihrer ersten gemeinsamen Mahlzeit im Baumhaus hatte Erik mit lauter Stimme kundgetan, dass sie damit zu Hause die Stallhasen fütterten.
Dichter Schnee fiel durch die Bäume, als Galen die Klapptür des Baumhauses öffnete. Mithilfe eines raffinierten, von ihr selbst konstruierten Flaschenzugs ließ sie die lange Holzleiter auf den Boden hinab, auf dem mittlerweile eine Schneedecke lag. Das Baumhaus selbst ruhte auf mehreren Plattformen, die sich quer durch drei uralte Eichen zogen und Teil der Bäume waren, seit sie vor vielen Jahrhunderten ihre jetzige Höhe erreicht hatten. Im Lauf der Zeit war auf den Plattformen eine Ansammlung ineinander verschachtelter Hütten entstanden. Sie waren mit Efeu überwuchert und so eins mit den Bäumen, dass sie vom Waldboden aus nicht zu sehen waren.
Sam, Fred, Erik und Jo-Jo teilten sich das Gästehaus in der Spitze des mittleren Baums. Sie hatten ein eigenes Tau nach unten in den Wald. Während die Jungen sich darum zankten, wer als Erster daran hinabklettern durfte, wählten Galen, Sarah und Sally den bequemeren Abstieg über die Hauptleiter.
Galen hatte sich für das Mittwinterfest fein gemacht. Vor vielen Jahren hatte sie schon mal eine Einladung bekommen, nachdem sie das Kind einer Hexe geheilt hatte, daher wusste sie, dass ein solches Fest etwas Besonderes war. Galen war eine kleine Frau mit dem wettergegerbten Gesicht einer Waldbewohnerin. Sie hatte kurzes und strubbeliges rotes Haar und lachende braune Augen. Gewöhnlich trug sie einen schlichten grünen Kittel, Leggins und einen Umhang. Heute jedoch hatte sie ihr festliches Mittwinterkleid angelegt.
»Du meine Güte, Galen, du hast dich aber in Schale geworfen«, rief Sarah etwas missbilligend. »Das Kleid kenne ich ja noch gar nicht. Es ist wirklich ... einmalig.«
Galen ging nicht oft aus, aber wenn, dann machte sie sich auch schön. Ihr Kleid sah aus, als sei es aus hunderten bunten Blättern genäht, und wurde an der Taille von einer leuchtend grünen Schärpe zusammengehalten.
»Oh, danke« sagte Galen. »Habe ich selbst gemacht.«
»Das habe ich mir gedacht«, erwiderte Sarah.
Sally Mullin schob die Leiter wieder durch die Klapptür, und die kleine Schar machte sich auf den Weg durch den Wald, immer dem köstlichen Bratenduft nach.
Galen ging voraus. Die Spuren unterschiedlichster Tiere kreuzten die verschneiten Waldwege. Nach einem langen Fußmarsch durch ein Labyrinth von Pfaden, Bächen und Gräben gelangten sie zu einem stillgelegten Schieferbruch der Burg. Dort hielten die Wendronhexen ihre Versammlungen ab.
Neununddreißig Hexen, die alle ihr rotes Mittwinterfestkleid trugen, hatten sich mitten im Steinbruch um ein prasselndes Feuer versammelt. Der Boden war mit frisch geschnittenen grünen Zweigen ausgelegt, die der sanft rieselnde Schnee bestäubte. Betörender Bratenduft erfüllte die Luft: Wolverinen brieten am Spieß, Kaninchen schmorten in Kasserollen, Eichhörnchen garten in Erdöfen. Auf einer langen Tafel waren süße und pikante Speisen aller Art aufgehäuft. Die Hexen hatten die Köstlichkeiten bei den Nordhändlern eingetauscht und für heute, den wichtigsten Tag im Jahr, aufgehoben. Den Jungen gingen die Augen über. In ihrem ganzen Leben hatten sie noch nie so viele Speisen auf einem Haufen gesehen. Selbst Sarah musste sich eingestehen, dass sie beeindruckt war.
Morwenna Mould bemerkte, dass sie sich unsicher am Eingang des Steinbruchs herumdrückten. Sie raffte ihr rotes Pelzkleid und rauschte zu ihrer Begrüßung heran.
»Herzlich willkommen miteinander. Bitte folgt mir.«
Die anderen Hexen bildeten respektvoll eine Gasse, damit Morwenna, die Hexenmutter, ihre etwas verschüchterten Gäste zu den besten Plätzen am Feuer führen konnte.
»Es ist mir eine große Freude, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Morwenna lächelnd zu Sarah. »Für mich ist es so, als würde ich Sie bereits kennen. Silas hat mir in der Nacht, in der er mich gerettet hat, so viel von Ihnen erzählt.«
»Tatsächlich?«, fragte Sarah.
»Oh ja. Er hat die ganze Nacht von Ihnen und dem Baby gesprochen.«
»Wirklich?«
Morwenna legte ihr den Arm um die Schulter. »Wir suchen alle nach Ihrem Sohn. Ich bin sicher, dass alles ein gutes Ende nehmen wird. Auch mit Ihren drei anderen, von denen Sie jetzt getrennt sind. Alles wird wieder gut.«
»Meinen drei anderen?«
»Ihren drei anderen Kindern.«
Sarah rechnete schnell nach. Manchmal wusste sie nicht einmal mehr, wie viel drei waren.
»Zwei«, sagte sie. »Meinen zwei anderen.«
Das Mittwinterfest dauerte bis tief in die Nacht, und nach einem gehörigen Quantum Hexengebräu vergaß Sarah ihre Sorgen um Simon und Silas. Leider waren alle Sorgen am nächsten Morgen wieder da, zusammen mit einem sehr schlimmen Kopfweh.
Silas verbrachte den Mittwintertag alles in allem etwas ruhiger.
Er folgte dem Uferweg, der außerhalb des Waldes am Fluss entlang- und dann um die Burgmauern herumführte, und steuerte dann in einem heftigen Schneegestöber das Nordtor an. Er wollte auf vertrautem Boden stehen, ehe er beschloss, was er tun wollte. Er zog die graue Kapuze über seine grünen Zaubereraugen, holte tief Luft und schritt über die schneebedeckte Zugbrücke, die zum Nordtor führte.
Gringe hatte am Torhaus Dienst, und seine Laune war nicht die beste. Bei den Gringes hing zurzeit der Haussegen schief, und er hatte den ganzen Morgen über seine familiären Probleme nachgegrübelt.
»He, du«, grunzte Gringe und stampfte mit den kalten Füßen auf. »Leg einen Zahn zu! Du kommst zu spät zum Pflichtstraßenkehren.«
Silas eilte an ihm vorbei.
»Nicht so hastig!«, bellte Gringe. »Ich bekomme einen Silberling von dir.«
Silas wühlte in seiner Tasche und fischte einen Silberling heraus.
Er war noch klebrig von Tante Zeldas Kirsch- und Rübenkompott, das er in die Tasche gelöffelt hatte, um es nicht essen zu müssen. Gringe nahm das Geldstück, schnupperte misstrauisch daran und rieb es dann an seinem Lederwams ab. Mrs Gringe hatte die vergnügliche Aufgabe, jeden Abend klebrige Münzen zu putzen, und so legte er es auf ihren Haufen und ließ Silas passieren.
»Ah, kennen wir uns nicht irgendwoher?«, rief er, als Silas von dannen eilte.
Silas schüttelte den Kopf.
»Vom Moriskentanz?«
Silas schüttelte abermals den Kopf und ging weiter.
»Vom Lautenunterricht?«
»Nein!« Silas schlüpfte in die Dunkelheit und verschwand in einer schmalen Gasse.
»Natürlich kenne ich ihn«, murmelte Gringe vor sich hin. »Und er ist kein Arbeiter. Nicht mit den grünen Augen, die leuchten wie zwei Raupen im Kohleeimer.« Er dachte eine Weile nach. »Das war Silas Heap! Der hat vielleicht Nerven. Kommt hierher. Der soll mich kennen lernen.«
Gringe passte einen vorbeikommenden Gardisten ab, und wenig später wurde dem Obersten Wächter gemeldet, dass Silas in die Burg zurückgekehrt sei. Eine sofortige Suche wurde eingeleitet, doch Silas war nirgends zu finden. Marcias Talisman leistete gute Dienste. Darauf ging der Oberste Wächter in die Damentoilette, setzte sich hin und dachte nach. Nach einer Weile hatte er einen Plan.
Unterdessen huschte Silas in die alten Anwanden, wo er vor dem Schnee geschützt war. Er wusste, wohin er wollte. Er wusste nicht recht, warum, aber er wollte seine alte Wohnung sehen. Er schlich durch die vertrauten alten Korridore. Er war froh über seine Verkleidung, denn niemand beachtete einen einfachen Arbeiter. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie wenig Respekt einem solchen Menschen entgegengebracht wurde. Keiner ließ ihn vorbei. Die Leute stießen ihn zur Seite, schlugen ihm Türen vor der Nase zu, und zweimal wurde er barsch angefahren, er solle gefälligst raus auf die Straße zum Schneefegen. Vielleicht, so sagte sich Silas, war der Beruf eines Gewöhnlichen Zauberers gar nicht so schlecht.
Die Wohnungstür der Heaps stand offen. Sie schien Silas nicht zu erkennen, als er auf Zehenspitzen in das Zimmer schlich, in dem er einen großen Teil der letzten fünfundzwanzig Jahre verbracht hatte. Er setzte sich auf seinen selbst gebauten Lieblingsstuhl, sah sich traurig um und hing seinen Gedanken nach. Das Zimmer wirkte merkwürdig klein, so still, wie es jetzt darin war, und ohne die Kinder und Sarah, die tagaus, tagein über das Kommen und Gehen gewacht hatte. Außerdem machte es einen peinlich schmutzigen Eindruck, selbst auf Silas, den ein bisschen Schmutz hier und dort nie gestört hatte.
»Die haben auf einer Müllkippe gelebt, was? Zaubererpack«, sagte eine raue Stimme. Silas fuhr erschrocken herum. In der Tür lehnte ein stämmiger Mann. Hinter ihm auf dem Korridor stand eine große Holzkarre.
»Hätt nie gedacht, dass sie jemand zum Helfen schicken. Das lob ich mir. Allein hätt ich den ganzen Tag gebraucht. Also, die Karre steht draußen. Der ganze Plunder kommt auf den Müll. Zauberbücher werden verbrannt. Alles klar?«
»Was?«
»Oh Gott! Sie haben mir einen Schwachkopf geschickt. Plunder. Karre. Müllkippe. Ist doch kein Hexenwerk. Und jetzt schieb den Holzhaufen rüber, auf dem du hockst, dann legen wir los.«
Wie betäubt erhob sich Silas von dem Stuhl und reichte ihn dem Möbelpacker, der ihn auf die Karre warf. Der Stuhl zerbrach krachend in seine Einzelteile. Wenig später lag er unter einem großen Haufen von Habseligkeiten, die sich im Laufe eines Lebens bei den Heaps angesammelt hatten, und die Karre quoll über.
»Das wär’s«, sagte der Möbelpacker. »Ich bring das runter zum Müllplatz, bevor er zumacht, und du schaffst inzwischen die Bücher raus. Die Feuerwehrleute nehmen sie morgen mit, wenn sie ihre Runde machen.«
Er drückte Silas einen großen Besen in die Hand. »Den lass ich dir da. Feg die ekelhaften Hundehaare zusammen und was sonst noch so rumliegt. Danach kannst du Feierabend machen. Du siehst leicht geschafft aus. Bist wohl schwere Arbeit nicht gewöhnt, was?« Der Möbelpacker gluckste und klopfte Silas freundschaftlich auf den Rücken. Silas hustete und lächelte matt.
»Vergiss die Zauberbücher nicht«, ermahnte ihn der Mann zum Abschied und rollte die schwankende Karre den Korridor hinunter in Richtung Müllkippe Schönblick.
Wie benommen fegte Silas Staub, Hundehaare und Dreck von fünfundzwanzig Jahren zu einem sauberen Haufen zusammen. Dann betrachtete er mit Bedauern die Zauberbücher.
»Wenn du willst, helfe ich dir«, sagte Althers Stimme direkt neben ihm. Der Geist legte ihm den Arm um die Schulter.
»Oh. Guten Tag, Alther«, grüßte Silas traurig. »Was für ein Tag.«
»Ja, kein guter. Es tut mir sehr Leid, Silas.«
»Alles fort«, murmelte Silas. »Und jetzt auch noch die Bücher. Es sind ein paar schöne darunter. Mit vielen seltenen Zaubern. Alles soll verbrannt werden.«
»Nicht nötig«, sagte Alther. »Sie passen problemlos in deine Schlafkammer unterm Dach. Ich kann dir bei dem Transportzauber helfen, wenn du magst.«
Silas’ Miene hellte sich ein wenig auf. »Sag mir nur, wie er noch mal geht. Den Rest schaffe ich allein. Ganz bestimmt.«
Der Zauber funktionierte einwandfrei. Die Bücher bildeten eine saubere Reihe, die Klapptür sprang auf, und die Bücher flogen nacheinander nach oben und stapelten sich in Silas und Sarah Heaps altem Schlafzimmer. Ein oder zwei widerspenstige Bücher witschten zur Tür hinaus und waren schon halb den Korridor hinunter, ehe es Silas gelangt, sie zurückzupfeifen. Doch am Ende waren alle Zauberbücher sicher unterm Dach versteckt, und Silas hatte sogar die Klapptür getarnt. Kein Mensch konnte ahnen, was da oben war.
So verließ Silas zum letzten Mal sein leeres, widerhallendes Zimmer und ging durch den Korridor 223. Alther schwebte neben ihm.
»Komm und leiste uns ein bisschen Gesellschaft«, schlug Alther vor. »Unten im Loch in der Mauer.«
»Wo?«
»Ich habe es erst neulich entdeckt. Einer von den Alten hat es mir gezeigt. Das ist eine alte Schänke in der Burgmauer. Eine Königin, die etwas gegen das Biertrinken hatte, ließ sie vor vielen Jahren zumauern. Geister können hinein, deshalb ist es brechend voll. Großartige Stimmung – könnte dich aufheitern.«
»Ich weiß nicht, ob ich darauf jetzt Lust habe, Alther. Trotzdem, danke. Ist das die, wo sie die Nonne eingemauert haben?«
»Oh, das ist vielleicht eine ulkige Nudel. Schwester Bernadette. Trinkt gern mal ein Bierchen. Die bringt Leben in die Bude. Sozusagen. Na, jedenfalls habe ich Neuigkeiten von Simon, die dich interessieren dürften.«
»Von Simon? Geht es ihm gut? Wo ist er?«
»Er ist hier, Silas. In der Burg. Komm mit ins Loch in der Mauer. Dort ist jemand, mit dem du dich unterhalten musst.«
Im Loch in der Mauer herrschte Hochbetrieb.
Alther hatte Silas zu einem Schutthaufen an der Burgmauer gleich hinter dem Nordtor geführt und ihm einen schmalen Spalt in der Mauer gezeigt, der hinter dem Schutthaufen verborgen war. Silas war es nur mit Mühe gelungen, sich hindurchzwängen. Aber dahinter hatte er sich in einer anderen Welt wieder gefunden.
Das Loch in der Mauer war eine alte Schänke, die man in die dicke Burgmauer hinein gebaut hatte. Als Marcia ein paar Tage zuvor die Abkürzung zur Nordseite genommen hatte, war sie auch über das Dach der Schänke gelaufen, ohne zu ahnen, was für eine bunt gemischte Gesellschaft von Geistern unter ihren Füßen die Zeit verplauderte.
Es dauerte ein paar Minuten, bis sich Silas’ Augen nach der Helligkeit des Schnees an das trübe Licht der Lampen gewöhnt hatten, die an den Wänden flackerten. Dann aber gewahrte er eine höchst erstaunliche Versammlung von Geistern. Sie saßen um lange, auf Böcke gestellte Tische, standen in Grüppchen am Geisterkamin oder hockten einfach nur in einer ruhigen Ecke und hingen ihren Gedanken nach. Besonders groß war der Anteil der Außergewöhnlichen Zauberer. An ihren purpurroten Umhängen und Gewändern konnte man ablesen, wie sich die Mode im Lauf der Jahrhunderte verändert hatte. Aber Silas sah auch Ritter in voller Rüstung, Pagen in extravaganten Livreen, Frauen mit Schleiern, junge Königinnen in kostbaren Seidenkleidern und ältere Königinnen in Schwarz, und alle schienen sich in dieser Gesellschaft wohl zu fühlen.
Alther führte Silas durch die Menge. Silas wollte vermeiden, dass er durch einen Geist hindurchging, doch ein- oder zweimal spürte er einen kalten Hauch, wenn es doch passierte. Niemand schien sich an seiner Anwesenheit zu stören. Manche Gäste nickten ihm freundlich zu, andere waren so ins Gespräch vertieft, dass sie ihn gar nicht bemerkten. Er hatte den Eindruck, dass im Loch in der Mauer jeder Freund Althers willkommen war.
Der Wirt hatte seinen Platz bei den Bierfässern schon vor langer Zeit aufgegeben, denn die Geister hielten noch dieselben Krüge in der Hand, die sie nach ihrer Ankunft bekommen hatten, und das war bei manchen schon viele Jahrhunderte her. Im Moment unterhielt er sich angeregt mit drei Außergewöhnlichen Zauberern und einem alten Landstreicher, der vor langer Zeit unter einem Tisch eingeschlafen und seitdem nicht wieder aufgewacht war. Alther entbot ihm ein fröhliches Hallo, dann bugsierte er Silas in eine ruhige Ecke, in der eine pummelige Gestalt in Nonnentracht saß, die sie offensichtlich erwartet hatte.
»Darf ich dir Schwester Bernadette vorstellen?«, sagte Alther. »Schwester Bernadette, das ist Silas Heap – ich habe Ihnen von ihm erzählt. Er ist der Vater des Jungen.«
Obwohl Schwester Bernadette freundlich lächelte, hatte Silas eine böse Vorahnung.
Die pausbäckige Nonne richtete ihre zwinkernden Augen auf ihn und sagte in einem singenden Tonfall: »Er ist ein ziemlicher Draufgänger, ihr Sohn, habe ich Recht? Er weiß, was er will, und er scheut sich nicht, es sich zu nehmen.«
»Nun ja, mag schon sein. Auf jeden Fall will er Zauberer werden, das weiß ich. Er will eine Lehre machen, aber so wie die Dinge im Moment liegen ...«
»Oh ja«, stimmte die Nonne zu, »es sind lausige Zeiten für einen jungen viel versprechenden Zauberer, so viel steht fest, aber deshalb ist er nicht in die Burg zurückgekommen.«
»Dann ist er also wirklich hier? Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich dachte schon, man hätte ihn verhaftet. Oder sogar umgebracht.«
Alther legte ihm die Hand auf die Schulter. »Bedauerlicherweise ist er gestern verhaftet worden. Schwester Bernadette war Augenzeugin. Sie wird es dir erzählen.«
Silas schlug die Hände vors Gesicht. »Wie?«, stöhnte er. »Was ist passiert?«
»Tja«, antwortete die Nonne, »wie es scheint, hatte der junge Mann eine Freundin.«
»Eine Freundin?«
»Ja. Ihr Name ist Lucy Gringe.«
»Doch nicht etwa die Tochter des Torwächters Gringe? Oh, nein!«
»Sie ist ohne Zweifel ein hübsches Mädchen«, protestierte Schwester Bernadette.
»Dann hoffe ich, dass sie nicht nach dem Vater schlägt, mehr kann ich dazu nicht sagen. Lucy Gringe! Du lieber Himmel!«
»Wie es scheint, hatte Simon einen triftigen Grund, in die Burg zurückzukehren. Er und Lucy hatten eine heimliche Verabredung in der Kapelle. Sie wollten heiraten. Wie romantisch.« Die Nonne lächelte verträumt.
»Heiraten? Das glaube ich nicht. Ich bin mit dem grässlichen Gringe verwandt?« Silas war weißer im Gesicht als jeder andere Gast in der Schänke.
»Nein«, sagte Schwester Bernadette missbilligend, »das sind Sie nicht. Denn die jungen Leute sind leider nicht verheiratet.«
»Leider?«
»Gringe ist dahinter gekommen und hat den Gardewächtern einen Tipp gegeben. So wie Sie nicht wollen, dass Simon eine Gringe heiratet, so will er nämlich nicht, dass seine Tochter einen Heap heiratet. Die Gardisten stürmten die Kapelle, schickten das verzweifelte Mädchen nach Hause und nahmen Simon mit.« Die Nonne seufzte. »Wie grausam von ihnen.«
»Wohin haben sie ihn gebracht?«, fragte Silas leise.
»Also«, sagte Schwester Bernadette mit ihrer weichen Stimme, »ich war selbst in der Kapelle, wegen der Hochzeit. Ich liebe Hochzeiten. Und der Gardist, der Simon abführte, ging direkt durch mich hindurch, daher weiß ich, woran er in diesem Augenblick dachte. Er dachte daran, dass er Ihren Sohn ins Gerichtsgebäude bringen sollte. Zu keinem Geringerem als dem Obersten Wächter. Es tut mir Leid, Ihnen das sagen zu müssen, Silas.« Die Nonne legte ihre Geisterhand auf seinen Arm. Es war eine warme Berührung, doch sie vermochte Silas nicht zu trösten.
Das hatte er befürchtet. Simon befand sich in der Gewalt des Obersten Wächters. Wie sollte er diese furchtbare Nachricht Sarah beibringen? Den Rest des Tages verbrachte er im Loch in der Mauer mit Warten. Unterdessen schickte Alther so viele Geister wie möglich ins Gericht, um nach Simon zu suchen und herauszufinden, was mit ihm geschah.
Doch sie fanden keine Spur von ihm. Simon war wie vom Erdboden verschluckt.